Solotour – O Porrino-Redondela
Ich wache trotz meiner neuen Medizin um 4.40 Uhr mit massiven Hustenanfällen auf. Es will einfach nicht aufhören. In meiner Vorstellung wachen die anderen Pilger auf, kommen auf meine Koje zu und drücken mir ein Kissen ins Gesicht, um das bellende Geräusch nicht mehr hören zu müssen.
Notgedrungen stehe ich auf und schleiche mich in die Lobby. Im gedimmten Neonlicht ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Meine Gedanken kreisen. Noch immer bin ich zu sehr mit irdischen Dingen beschäftigt – die Hotelsuche, das Thema Job und der Einfluß von Internet/sozialen Medien. Es fühlt sich mehr an wie ein Activity/Adventure Urlaub mit dem besten Freund mit gutem Essen und netten Unterkünften.
Mir fehlt der Zugang zu tieferen Schichten, es bewahrheitet sich der Spruch: Willst du mehr über dich erfahren, dann gehe allein! Natürlich ist es angenehm und eine große Sicherheit, zu zweit zu sein – aber eben auch in der Komfortzone.
Auch die Hotelabsicherung im Vorfeld entpuppt sich als nicht nur vorteilhaft. Ich erinnere mich an Ricardas Text in ihrem Fotoalbum, was sie uns gezeigt hat: „Lerne zu vertrauen … denn der Weg sorgt für dich. Die meisten Pilger planen ihren Weg, die einen mehr und andere noch mehr. Doch die Essenz des Weges wird zwei Dinge tun: dich überraschen und dich tragen. Und beides lässt sich nicht planen. Öffne dich also für die Essenz des Weges und lerne zu vertrauen, dann wirst du von ihm beschenkt werden.“
Was mich in diesen frühen Morgenstunden beschäftigt, ist mein Verhältnis zu sozialen Medien. Vor Beginn der Reise habe ich mir einen Instagram-Account zugelegt. Mein Ziel war es, täglich über meine Erfahrungen zu berichten und so eine gewisse Anzahl von Followern zu gewinnen. Somit war ich jeden Abend damit beschäftigt, die besten Bilder auszuwählen und auf Instagram und Whatsapp zu posten.
In diesen einsamen Stunden in der Hotellobby frage ich mich, warum ich mir das antue. Ist es nur so ein Ego-Ding, um anderen zu zeigen, was ich Cooles mache? Wie ich auch immer, ich beschließe in diesem Moment am 5. Tag meiner immer heftiger werdenden Erkältung damit Schluss zu machen und nur noch 1-2 Bilder in den Whatsapp-Status zu stellen.
Gegen 6.40 Uhr geht es mir langsam besser, ich nehme eine warme Dusche, ziehe mich an und bin einer der ersten beim Frühstück. Ich beschließe, heute mal allein zu laufen. Raik liegt eh noch im Bett und mich drängt es nach draußen an die frische Luft.
Der Anfang ist schön und befreiend, aber dann realisiere ich, dass ich in einem Pilgerstrom bin. Schon komisch, da beschließt man, seine Ruhe haben und allein pilgern zu wollen und ist umgeben vom Massen-Pilger-Tourismus.
Hier entpuppt sich das kommerzielle Geschäft des Jakobsweges – 100 Kilometer vor Santiago de Compostela nimmt die Anzahl der Pilger exponentiell zu, um genau diese zu erhalten. Denn 100 Kilometer müssen zusammenkommen, um die Compestela in den Händen zu halten. Offenbar sind es ganze Busgruppen, die unterwegs sind. Ausgerüstet sind sie nur mit einem kleinen Rucksack mit dem Nötigsten, der Rest wird vorgefahren. Neben dem kräftezehrenden Weg stört mich diese Massenwanderung.
Eine kleine Abwechslung bieten 2 Gänse – eine Art Wachgans anstelle eines Wachhundes.
Über „Wo ist?“ sehe ich, wo sich Raik aufhält und dass er massiv aufholt. Also beschließe ich auf dem höchsten Punkt der heutigen Tour – dem Marco Militário Romano auf ihn zu warten. Der Stein, der hier unauffällig am Wegesrand steht, gibt Zeugnis über die lange Tradition dieses Weges. Es handelt sich um einen römischen Meilenstein, ein Orientierungspunkt für Reisende über die Wegstrecke und Distanz.
Raik war flott allein unterwegs, hat aber offensichtlich ein wenig überpaced. Insofern sind wir beide froh, wieder zusammen zu sein und ich kann ihn an meinen Gedanken teilhaben lassen.
Von nun geht es bergab auf Wegen und Nebenstraßen nach Redondela, unserem heutigen Etappenort, den wir gegen 15 Uhr erreichen. Vielleicht hat es mit dem Pfingstsonntag zu tun, aber wir finden kaum einen Platz in einem Restaurant, alles ist völlig überfüllt. Letztendlich finden wir noch einen netten Mexikaner, wo wir eine Kleinigkeit essen können.
Die Überfüllung trifft auch für die Unterkünfte zu, alles ist ausgebucht. Wir finden gerade noch so eine Unterkunft, nicht gerade mit Top-Bewertungen, aber besser als nichts. Auch wenn es sich als eine kleine Bruchbude mit einem Badezimmer für alle Pilger herausstellt und das für 80 Euro die Nacht! Aber selbst schuld, wir hätten ja am Morgen was buchen können.
Dort angekommen, zeigt sich, dass Raiks Spanischkenntnisse Gold wert sind. Er unterhält sich fließend mit der Herbergsmutter, die uns daraufhin ihr bestes Zimmer gibt. Denn es ist mit 2 Fenstern zur Gasse gesegnet. Im Gegensatz zum Zimmer nebenan – dieses hat nur eine kleine Luke zu unserem Zimmer und wird daher nur schwach mit Sauerstoff versorgt. Insofern zeigt sich Ricardas Spruch – wir werden belohnt.
Als wir die Herberge für einen kleinen Stadtrundgang verlassen, treffen wir unten in der Herberge auf eine junge Frau, die nicht ganz so viel Glück hat, sie sucht immer noch eine Unterkunft, was aber aussichtslos scheint.
Die Stadt ist recht interessant. Ganz besonders bemerkenswert finde ich die Eisenbahnbrücke, die exakt durch die Stadtmitte geht, quasi oberhalb der Hausdächer. Wir wollen eigentlich runter zur Bucht – in unserer idealisierten Welt sitzen wir beim Sonnenuntergang am Wasser und genießen den Abend, aber das Wetter spielt leider nicht mit.
Es regnet immer mehr, sodass wir den Stadtrundgang abbrechen. Auch unsere Suche nach einem Restaurant ist nicht gerade erfolgreich, viele Restaurants sind geschlossen und öffnen auch erst am Montag wieder.
Ich dränge Raik auf ein pünktliches Loslaufen, was uns im Restaurant nebenan zugutekommt – wir bekommen gerade noch den letzten freien Tisch. Nach uns trudeln immer mehr Gäste ein, die wieder weggeschickt werden.
Als wir abends wieder zurückkommen, ist die junge Frau verschwunden, wir hoffen, dass sie eine Unterkunft gefunden hat. Ich hoffe auf eine gute Nacht, in der ich halbwegs schlafen kann.
Meine Quintessenz des Tages: ab 100 Kilometer vor Santiago ändert sich das Bild drastisch, extrem viele Pilger, die zudem nur einen kleinen Rucksack tragen. Wir „Traditionalisten“ sind hier klar in der Unterzahl.
Der Camino ist eine Herausforderung, zu viel Gepäck macht es nicht leichter, aber ihn mit einer fetten Erkältung zu machen eine existenzielle Erfahrung! Mein Hauptthema heute war Demut!
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