Küstenweg Jakobsweg von Labbrige

Aufregender Start und neue Rituale

Ich wachte bereits früh am Morgen auf, vielleicht war es die Aufregung des ersten Tages, aber wahrscheinlich eher das Schnarchen meines Freundes Raik. Es war noch recht früh, daher versuchte ich wieder einzuschlafen, um Raik nicht zu wecken. Kurze Zeit später hörte ich aber das Öffnen und Schließen von Türen und das schnarrende Geräusch eines Türschlosses – unsere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner waren offensichtlich ebenfalls schon wach und blockierten das Gemeinschaftsbad. Eine Weile blieb ich noch liegen, dann wollte ich herausfinden, ob wenigstens die Toilette im Erdgeschoss frei war.

Auch das Schloss unserer Tür machte sich lautstark bemerkbar, aber Raik schien es nicht zu stören. Ich tappte die Treppe herunter und zu meiner Erleichterung war die Toilette frei. Leider hatten es die Erbauer der eigentlich netten Herberge versäumt, daraus ein wenig mehr zu machen als eine Toilette mit Waschbecken – eine Dusche hätte man durchaus noch unterbringen können.

Kaum oben wieder in unserem Zimmer angekommen, hörte ich, wie sich die Badtür öffnete. Ich schnappte mir meine Waschsachen, aber als ich gerade hinauswollte, hörte ich das Zuschnappen des Schlosses – zu spät. Spätestens jetzt dämmerte mir, dass private Herbergen mit einem Gemeinschaftsbad auf dem Camino Portugues nicht unbedingt unsere erste Wahl sein sollten – zu viele Menschen zur gleichen Zeit mit gleichen Interessen.

Endlich war das Bad frei und ich beschloss, von heute an eine erweitertes Morgenritual einzuführen, neben den üblichen Dingen waren das Eincremen mit Sonnenschutz und das Eincremen der Füße mit Hirschtalg. Nichts wäre schlimmer, als die Körperteile zu vernachlässigen, auf die ich mich in den nächsten Tagen am meisten verlassen musste – bei meinen neuen Wanderschuhen eine nicht unbegründete Sorge.
Nachdem sich auch Raik aus dem Bett geschält hatte und sich fertig gemacht hatte, ging es hinunter zum Frühstück. Wie sich herausstellte, waren alle Mitbewohner, wenig überraschend, ebenfalls Pilger, aber teilweise bereits abmarschbereit.

Die erste Sichtung ergab: eine Mutter mit ihrer Tochter unbekannter Nationalität, da sie bereits das Haus verließen und nur noch einen „Bom Caminho“ wünschten, eine Gruppe von vier älteren Französinnen und ein Paar, das vom Dialekt offensichtlich aus den USA stammte. Meine These schien sich zu bewahrheiten, dass der Camino Portugues von älteren Semestern begangen wird – ein Trugschluss, wie sich bald herausstellen sollte.

Das Frühstück war gut, aber überschaubar, so dass wir alsbald damit auch fertig waren. Nun ging es an den 2. Teil des Morgenrituals – alle Sachen nicht nur sorgsam verpacken, sondern so, dass man an die wichtigen unterwegs auch schnell herankam und die Getränke zuzubereiten. Aufgrund der als sehr gut eingeschätzten Trinkwasserqualität Portugals entschieden wir uns für das Trinkwasser aus dem Hahn. Dieses füllten wir einmal mit Mineraltabletten und zum anderen mit dem von meiner Frau gepriesenen Proteinpulver aus dem Hause Ringana auf. Ein erster Schluck davon sagte mir: am Geschmack könnten die noch arbeiten, aber vielleicht hilft es ja dafür.

Endlich waren wir gegen 8.15 Uhr abmarschbereit – die anderen waren schon alle vor uns weg. Wir gingen den Weg zum Meer, den wir bereits gestern zum Restaurant beschritten hatten. Noch ein obligatorisches Selfie am Startpunkt und Abklatschen dann machten wir uns auf unsere erste Etappe, die uns bis Via Conde am Meer entlangführte.

Uns beide ergriff ein schwer zu beschreibendes Gefühl – energetisierend, ekstatisch, ein Schauer rann durch meinen Körper bei dem Wissen, nun für die nächsten elf Tage einen ganz besonderen Weg gemeinsam zu gehen.

Der Wind war angenehm frisch und kühlend, für den Tag waren 28 Grad im Schatten vorhergesagt. Unser Weg führte uns auf einem Holzsteg oberhalb des Strandes entlang, entspannt wippend gingen wir unsere ersten Meter.

An jedem Detail des Camino Portugues erfreuten wir uns wie kleine Kinder, die Blumen entlang des Weges, kleine Kunstwerke von unbekannten Künstlern, das Rauschen des Meeres und der azurblaue Himmel, durchzogen von Wolkenschleiern.

Portugal hat einiges getan, um diesen Weg attraktiv zu gestalten – neben dem Holzbohlenweg gibt es Erläuterungen zu Flora und Fauna der Gegend und auch zur Historie. So erfuhren wir, dass bereits die Wikinger lange vor uns hier waren – davon zeugen noch entsprechende Gräber. Die milchigen Schleier der Wolken über der Sonne und das Grabmal machen den Ort zu einem mythischen Platz.

Weiter geht es zum kleinen Fischerdörfchen Via Chá – kurz davor werden wir von einer merkwürdigen Gruppe aufgehalten – ein humoriger Künstler hat hier aus alten Gegenständen eine illustre Gruppe von Alltagsskulpturen geschaffen.

Der Weg ist durch kaputte Holzbohlen unterbrochen und wir müssen auf den Sand ausweichen. Wie anstrengend ein ständiger Weg mit dem Gepäck durch den Sand wäre, merken wir auf den wenigen Meter. Was für eine Wohltat, auf den Holzbohlen zu laufen.

Bald darauf erreichen wir unser Zwischenziel Vila do Conde und verlassen hier den Küstenweg und machen uns auf den Weg zum traditionellen Camino Portugues im Landesinneren.

Zum Glück haben wir unseren Reiseführer, der uns präzise den Weg weist, der so nicht ausgeschildert ist. Dieser führt uns die Treppen nach oben zum ehemaligen Karmelitinnenkloster Santa Clara, was aktuell in ein Luxushotel umgebaut wird. Nicht nur der Blick nach unten macht einen Stopp lohnenswert. Oben angekommen treffen wir eine deutsche Pilgerin, die überrascht ist, hier weitere Pilger anzutreffen, da die meisten offensichtlich weiter den Küstenweg gehen. Sie hat sich bereits am 2. Tag den Fuß verletzt und will nun den Weg weiter per Transport bewältigen, bis Besserung eintritt.

Das Highlight hier oben ist aber das am Kloster endende Aquädukt. Ein faszinierendes Baudenkmal – zwar nicht von den Römern erbaut, sondern aus dem 18. Jahrhundert. Aber deswegen nicht minder bemerkenswert, Raik und ich sind beeindruckt, wie die Menschen damals mit damaligen Hilfsmitteln das entsprechende Gefälle von der Quelle über 4 km genau berechnet haben. Laut Wikipedia zumindest nicht im ersten Anlauf.

Im Gegensatz zum Küstenweg macht sich indessen die Wärme bemerkbar und das Gewicht des Rucksacks ebenfalls. Trotzdem genießen wir den Weg entlang des Aquäduktes und pilgern munter weiter. Gute Gespräche erleichtern den Weg. Ebenso kleine Details am Wegesrand, so nutzt z.B. ein Grundstücksbesitzer das Aquädukt als natürliche Mauer und lässt Wein entlang der Mauern ranken und Bögen als dekorative Elemente.



Die letzten Kilometer gehen unaufgeregt durch die ländliche Gegend, beginnen sich aber auch zu dehnen. Daher sind wir froh, alsbald den Ortseingang von Rates zu erreichen, unserem ersten Etappenziel. Der Pilgerweg führt unweigerlich an der kleinen, alten Kirche aus dem 12. Jahrhundert vorbei. Die Ruhe und insbesondere Kühle des Raumes tut uns gut nach rund 22 Kilometern.

Nach wenigen hundert Metern erreichen wir die dienstälteste offizielle Pilgerherberge Portugals. Erschöpft lassen wir die Rucksäcke fallen und schauen uns um. Wir werden von auffallend vielen jungen Frauen gemustert und willkommen geheißen. Unvertraut mit den Prozessen einer Pilgerherberge fragen wir nach dem Ablauf.

Uns wird erklärt, dass sie alle gerade auf die Anmeldung warten und der „Voluntario“ sich sehr viel Zeit nimmt und jedem Einzelnen die Herberge erklärt. Wir schauen uns um – das könnte länger dauern. Tut es auch. Ich nutze die Zeit und laufe ein wenig umher, da ich nicht auf den Fliesen rumsitzen möchte. Im Wohnraum unterhält sich ein älteres Pärchen auf Französisch. „Ah, you are from France!“ sage ich. „No, from Canada” erwidern sie. Ok, da hätte ich auch darauf kommen können, dass die französische Sprache nicht zwingend nur in Frankreich gesprochen wird, bin aber auch erstaunt. Ich nahm an, dass der Jakobsweg und besonders der Camino Portugues ein Ding der Europäer ist. Sie erklären mir, dass dies bereits ihr 11. Camino ist und sie sowohl bereits den französischen als auch den portugiesischen Weg mehrfach gegangen sind. Ich frage mich, ob ich mir in diesem Alter noch eine Herberge antun würde oder nicht eher ein Privatquartier nehmen würde.

Ich kehre zurück zu Raik, der sich angeregt mit den anderen Pilgerinnen unterhält. Die Nationalitäten sind vielfältig – USA, Deutschland, Australien, Niederlande und Österreich. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir endlich in den Genuss der Anmeldung. Der Voluntär Tom erklärt uns ausführlich wie bei den anderen zuvor alle Details, geknüpft mit netten Anekdoten und Fragen zu unserer Herkunft.

Es ist aufregend, zum ersten nach über 20 Jahren werde ich wieder in einem Schlafsaal schlafen. Als Mensch mit einem leichten Schlaf, der aber auch kein Ohropax mag, keine besonders enthusiastische Vorstellung. Immerhin es sind noch genügend Betten unten frei, dafür sind bereits alle Steckdosen mit Smartphones zum Aufladen belegt. Was solls, ich hab ja eine Powerbank dabei.

Nach kurzer Erfrischung und dem Waschen unserer Bekleidung machen wir uns auf dem Weg und folgen der Empfehlung unseres Herbergsvaters Tom. Dieser führt uns ins Café St. Antonio, laut Tom das beste Restaurant im Ort. Zufällig wird auch gerade ein Tisch frei und wir kommen ins Gespräch mit unseren Tischnachbarn – ein junges Paar aus Berlin.

Interessanterweise stellt man sich vor, woher man kommt und warum man hier ist, aber nicht wie man heißt. Somit taufen wir die junge Frau auf „Dresi“, da sie, obwohl sie aus Berlin kommt, Dresden nicht kennt. Wir fragen nach, ob sie ihr gewähltes Essen empfehlen können, was sie bejahen. Der junge Mann hat den Bacalhau, der traditionell in Portugal zubereitete eingesalzene Kabeljau, gewählt. Wir fühlen uns der Tradition verpflichtet und wählen daraufhin ebenfalls das Nationalgericht Portugals.

Unser Fisch schwimmt nicht mehr im Wasser, dafür aber in reichlich Öl. Nach ungefähr der Hälfte wird mir klar, dass ein leichtes Essen bei den immer noch vorherrschenden Temperaturen die bessere Wahl gewesen wäre. Gut erzogen, wie wir sind, versuchen wir alles aufzuessen, bis wir kurz vorm Platzen sind.

In der Zwischenzeit haben neben uns die beiden jungen Frauen aus Australien Platz genommen – Natasha „Tash“ und Esther. Wir werden sie von nun an öfters sehen. Nach dem opulenten Mahl gönnen wir uns einen Brandy als Digestiv zum Verdauen. Alsbald brechen wir auf den Rückweg zur Herberge auf. Wir genießen den Sonnenuntergang und entscheiden uns für einen Abstecher zum Ortszentrum, da wir es noch zu früh zum Schlafen legen empfinden.

Dieser endet in Macedo’s Bar. Bier gibt es hier aus historisch anmutenden Metallkelchen. Nach dem reichlichen Konsum von Essen und Alkohol wähnen wir uns in der nötigen Bettschwere. Die Wissenschaft und die Erfahrung lehren etwas anderes – der Fisch und der Alkohol liegen mir schwer im Magen. Irgendwann falle ich trotz reichlicher Schnarcher in den Schlaf. Gefühlt direkt nach dem Einschlafen wache ich wieder auf – der oder die erste mit schwacher Blase macht sich auf den Weg zum stillen Örtchen, die unglücklicherweise direkt neben unserem Raum liegt und ist gar nicht so still, die Tür quietscht und wie die meisten Türen in Portugal wird auch diese mit einem Metallriegel gesichert, der sich deutlich bemerkbar macht. Es soll nicht bei dem einen Besucher bleiben. Zudem befinden wir uns in einer ländlichen Gegend und an der Hauptstraße des beschaulichen Städtchens. Es ist noch dunkel, da wummern die ersten Traktoren an uns vorbei – mein Bett befindet sich gerade mal 3 m von der Straße entfernt. Als mein müder Geist sich gerade halbwegs an Schnarcher, Traktoren und Toilettengänger gewöhnt hat, scheint es für die ersten im Schlafsaal Zeit, aufzustehen und sich auf den Weg zur nächsten Etappe zu machen. Scheinbar wollen die ersten bereits mittags am nächsten Etappenziel sein oder laufen 40 km am Tag.

Wie auch immer, nun bin ich endgültig wach. Da kann ich auch die Gunst der Stunde nutzen und aufstehen, um nicht wieder auf eine freie Toilette oder Dusche zu warten. Meine Sorge, dass die Duschen am Morgen noch kalt sein könnten, erfüllt sich zum Glück nicht. Ich genieße die wohltuende, warme Dusche.

Um die anderen noch schlafen zu lassen, schnappe ich mir meine Sachen und gehe in den Innenhof. Langsam erwacht das Leben, viele Pilger/innen sind bereits wach, ebenso gefühlt Tausende von Hähnen im Ort. Trotz der frühen Zeit ein schöner Beginn des Tages, ich habe Zeit für Gespräche, mir in Ruhe in den Innenhof der Herberge anzuschauen und die Erlebnisse des ersten Tages in mein Tagebuch zu notieren.

Bemerkenswert, wie viele bereits nach den ersten 2 Tagen Blasen an den Füßen haben und sich tapen. Wie zum Beispiel Kerry. Kerry ist Amerikanerin, lebt seit 2 Jahren in einem Van, hasst Donald Trump aufrichtig und hat auch sonst ein recht gespaltenes und distanziertes Verhältnis zu ihrem Land. Auf meine Frage, wie sie die aktuelle Situation in den USA einschätzt, ist ihre simple Antwort: „We are fucked off!“ Es entwickelt sich eine interessante Diskussion um die aktuelle Situation in unserer Welt.

Nachdem auch Raik aus den Federn gekommen ist, starten wir alsbald unsere zweite Etappe nach Barcelos.

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