
Bergwertung – Ponte de Lima-Pacos
Nach einer heftigen Nacht und einem wilden Traum wache ich frühmorgens auf. Leider startet das Frühstück im Guesthouse erst neun Uhr. Das ist uns ein wenig zu spät, also machen wir uns erst mal so auf den Weg und hoffen auf ein baldiges Frühstück unterwegs.
Kurz nach Überquerung der Brücke treffen wir auf einen bemerkenswerten Laden nebst Inhaber. Er ist Restaurator, im Nebengeschäft verkauft er typische Pilgergegenstände wie Stöcke, Ketten oder Jakobsmuscheln. Daneben ist er auch ein sehr unterhaltsamer Mensch. Wir führen ein wenig Smalltalk, lassen uns einen Stempel geben und finden, dass es nun Zeit für eine Jakobsmuschel als Erkennungszeichen und Erinnerung ist.
Ich fühle mich recht gut, der leichte Rucksack mit den nötigsten Dingen gibt mir ein gutes Gefühl. Wir laufen stadtauswärts, vorbei an Schafherden, einem lieblichen Bach und einem magisch anmutenden Tor, sprechen über unsere aktuellen Lebenssituationen.
Nach knapp einer Stunde treffen wir auf die Oasis do Caminho, eine schöne kleine Bar geführt von Italienern, die auch Frühstück bietet. Auch hier sind wir wieder fasziniert von den günstigen Preisen – vier Euro für ein Sandwich, einen O-Saft und einen Espresso als Pilgerfrühstück.
Wie immer treffen wir bekannte Pilger:innen, was immer wieder schön ist. Nach der Stärkung geht es weiter mit einem weiteren Novum in unserem Leben – zum ersten Mal unterqueren wir eine Autobahn.
Landschaftlich ist es wie immer reizvoll – grün und blühend. Während Ponte de Lima praktisch auf Meeresniveau liegt, geht es erst langsam dann immer steiler bergauf. Spätestens jetzt bin ich froh, ohne den schweren Rucksack unterwegs zu sein. Raik hat ordentlich zu kämpfen, als wir den Berg zum Cruz dos Franceses hochsteigen. Es ist der einzige steinige und anspruchsvollere Abschnitt der Tour, bei dem feste Wanderschuhe von Vorteil sein können. Seinen Namen (auch als Cruz dos Mortos bekannt) trägt der Ort durch die Tatsache, dass Truppen Napoleons hier in einen Hinterhalt gerieten. Heute legen hier Pilger:innen Steine und Andenken an ihre Pilgerreise ab. Danach geht es noch ein weiteres Stück bis zum Portela Grande bergauf, dann ist es geschafft. Wir auch. Hier bietet sich uns als Belohnung eine wunderbare Aussicht auf das Tal.
Während dieses Teils der Wanderung kommt mir immer wieder der Song von Silbermond „Leichtes Gepäck“ in den Sinn, ich singe ihn in Gedanken mit. Es ist eine der prägenden Erkenntnisse des Jakobsweg für mich. Wir Menschen tragen heutzutage einen großen physischen und emotionalen Ballast mit uns herum.
Ebenso beschäftigt mich insbesondere heute der Punkt, warum wir ausgerechnet hier entlang laufen. Wer waren die ersten Menschen, die diesen Weg beschritten und warum hat sich dieser Weg etabliert? Schließlich wandeln wir hier auf der Via Romana, also einem Weg der vor über 2.000 Jahren etabliert worden ist. Anhand alter Steinbrücken fühle ich mich manchmal in diese Zeit versetzt.
Der blanke Gegensatz sind äußerst moderne Häuser in den kleinen Dörfern im Bauhausstil. Das überrascht mich positiv, unsere Dörfer und Kleinstädte sind ja doch eher recht konservativ aufgebaut.
Am Nachmittag ist es erstmal Zeit, die Regenbekleidung herauszuholen. Aber wir haben Glück – es regnet sich weiter von uns entfernt ordentlich ab. Aber es ist ordentlich schwül, was uns ein wenig zu schaffen macht.
Um exakt 15.28 Uhr ist es Zeit für eine kleine Zelebrierung – wir haben unsere ersten 100 Kilometer geschafft!
Neun Stunden nach unserem Start haben wir endlich unser heutiges Ziel erreicht – die Pilgerherberge Quinta Estrada Romana. Wie auch bei den anderen längeren Etappen ziehen sich die letzten Kilometer. Raik wirkt ziemlich erschöpft, ich bin auch froh da zu sein, fühle mich aber trotz meiner körperlichen Handicaps ganz gut.
Wir werden freundlich von der deutschen Pächterin begrüßt. Sie erklärt uns alles umfassend und führt uns dann in unser heutiges Refugium. Ich hatte mir bei der Buchung keine großen Gedanken gemacht, da die Herberge im Reiseführer wärmstens empfohlen wurde und hatte daher auch keine Bilder angeschaut. Wir fühlen uns ein wenig an das Gemach eines Burgfräuleins erinnert – mit Steinwänden, einer kleinen Sitzgelegenheit mit Ausblick und einem Baldachin über dem Bett. Nur das Bett könnte etwas größer sein, aber vielleicht hat man sich doch sehr stark an der Zeit im Mittelalter orientiert, als alles ein wenig kleiner war.
Das tut aber der Liebe für diese geschmacklich sehr schön eingerichtete Herberge keinen Abbruch. Und wir freuen uns schon sehr auf das gemeinsame Pilgeressen am Abend. Anders als bei den anderen Abend sind es diesmal alles neue Gesichter – aus Spanien, Polen, den USA, den Niederlanden und Deutschland.
Es ist ein sehr schöner Abend mit angeregten Gesprächen. Leider zieht sich meine Nase immer weiter zu, ich kann kaum noch atmen. Aber die Gespräche mit jungen Amerikanern, die sich nach ihrem Collegeabschluss entschieden haben, den Jakobsweg zu gehen, heitern mich auf. Besonders hat es mir Ricarda angetan. Ricarda trägt das Herz am rechten Fleck, ist aus Bayern und Volontärin der Pilgerherberge, ohne die ein Betrieb der Herbergen nicht möglich wäre. Sie ist den Jakobsweg unter Qualen ein Jahr zuvor gegangen, aber wollte unbedingt zurückkommen. Ihre Geschichten über ihre Qualen, die Gedanken ans Aufgeben, die Stärke weiterzumachen und ihre witzige Art rühren alle am Tisch.
Nach dem gemeinsamen Aufräumen ist gegen 22 Uhr Schicht im Schacht. Unsere Honeymoon Suite entpuppt sich doch nicht als so romantisch – das Bett ist doch recht eng und ich bekomme kaum noch Luft.

Schreibe einen Kommentar